Glocke des Augustinerklosters zu Erfurt
glockenzeit glockenzeit
2.2K subscribers
1,763 views
48

 Published On Aug 12, 2023

Am nördlichen Rand der historischen Altstadt von Erfurt findet sich das Augustinerkloster. Am 17. Juli 1505 tritt der Reformator Martin Luther in den hier ansässigen Konvent ein. Die Geschichte von Kirche und Kloster beginnt jedoch bereits 250 Jahre zuvor.

Nur zehn Jahre nachdem sich der Augustinerorden gegründet hatte, siedelt sich 1266 in Erfurt einer der ersten Konvente an. Nach anfänglichen Schwierigkeiten hatte man schließlich ab 1277 mit dem Bau der Klostergebäude und der zugehörigen Kirche begonnen, für welche die baufällige Pfarrkirche St. Phillipi und Jacobi abgetragen wurde. Innerhalb von rund 80 Jahren war ein großer Teil des neuen Klosterkomplexes fertiggestellt.

Bereits im 15. Jh. hatte man weitere Umbaumaßnahmen vorgenommen, sowie das Langhaus der Kirche, den Bibliotheksbau und den Kapitelsaal bis 1518 vollendet. Auch das filigrane Chortürmchen wurde zu Beginn der zweiten Bauphase an die Kirche angefügt und bereits 1444 fertiggestellt. Während den Turm selbst eine kleine, mit Fialen besetzte Maßwerkgalerie krönt, erhielt das oberste Geschoss in seiner Funktion als Glockenstube acht spitzbogige Schallfenster.

Ob der Turm bereits zu seiner Fertigstellung eine erste Glocke erhielt, ist unklar. Für das Jahr 1474 ist der Aufzug einer Glocke belegt, welche der Erfurter Glockengießer Hans Sinderam bereits 1473 gefertigt hatte. Die Sinderam-Glocke der Augustinerkirche verfügt an der Flanke über eine Ritzzeichnung des Hl. Johannes des Täufers mit Lamm Gottes auf dem Arm, die in Quelle 1 fälschlicherweise als Relief des Hl. Markus mit einem Löwen identifiziert wird. Die Schulterumschrift in gotischen Minuskeln gibt über das Jahr des Glockengusses Aufschluss: anno ⚜ dom ⚜ m ⚜ cccc ⚜ lxxiii.

Über Jahrhunderte hinweg hatte in der Augustinerkirche, auch wenn der Holzglockenstuhl über zwei Gefache verfügt, wohl lediglich diese Glocke geläutet. Eine etwaige Ergänzung wurde spätestens mit dem Beginn des 19. Jh. hinfällig: 1819 hatte man die benachbarte Johanneskirche abgetragen, ihren Glockenturm aus dem 15. Jh. mitsamt Geläut jedoch erhalten. Mitte des 19. Jh. diente der Johannesturm bereits als eigentlicher Glockenturm der Augustinergemeinde. So liegt der Grund, dass die Augustinerkirche auch in neuerer Zeit kein mehrstimmiges Geläute bekommen hat darin, dass sie bereits seit zwei Jahrhunderten auf die größeren Glocken der ehemaligen Johanneskirche zurückgreifen kann. Das Geläut des Johannesturmes ist es auch, welches zu den sonntäglichen Gottesdiensten der Augustinergemeinde einlädt.

Ungeachtet dessen ergab sich auf dem Turm der Augustinerkirche in der Nachkriegszeit doch noch eine (ungewollte) Veränderung. Zunächst blieb auch die Bausubstanz des Augustinerkloster vom Zweiten Weltkrieg nicht verschont. Nach umfassenden Arbeiten konnte der Komplex wiederhergestellt werden und erstrahlt heute wieder als besonderes Zeugnis mittelalterlicher Ordensbaukunst. Die historische Sinderam-Glocke überstand zwar sämtliche Kriegshandlungen; bei einer Untersuchung im Jahr 1953 wurde allerdings ein Riss in der Glocke festgestellt und diese stillgelegt.

Die historische Glocke ist glücklicherweise bis heute im Besitz der Gemeinde verblieben und befindet sich im Augustinermuseum. Erhalten geblieben ist auch ihr 1759 gefertigtes Holzjoch. Leider konnte der Schaden an der abgestellten Sinderam-Glocke nicht näher untersucht werden. Wenn es auch zu bedauern ist, dass diese kunsthistorisch wertvolle Glocke nicht zu reparieren ist, darf man sich umso glücklicher schätzen, dass dieses Stück klingende Geschichte der Augustinerkirche kein Dasein in einem Depot fristen muss, sondern dem interessierten Besucher zugänglich ist.

Ersatzweise lieferte die Apoldaer Glockengießerei Schilling 1956 eine neue Bronzeglocke ohne Zier und Inschrift im Schlagton es''' (in Quelle 1 fälschlicherweise mit b'' angegeben). Das kleine Glöckchen auf dem Augustinerturm wird von Hand geläutet und erklingt derzeit täglich zur Mittagszeit.

Technische Daten der Glocke
I. Betglocke, Ton: dis'''+4
Gewicht: ~25 kg, Durchmesser: 300 mm, Gießer: Fa. Schilling, Apolda (1956)

Technische Daten der Sinderam-Glocke im Augustinermuseum
II. Betglocke (alt), Ton: a''
Gewicht: ~70 kg, Durchmesser: ~470 mm, Gießer: H. Sinderam, Erfurt (1473)


Quellen:
Turmbesteigung, 05.01.2022. Bezugston für Schlagtonangaben: a': 435 Hz.
1. Kurt, J. (1979). Aus Erfurts Glockenstuben. S. 55ff.
2. Tettau, J. A. v. (1890). Beschreibende Darstellung der älteren Bau- und Kunstdenkmäler der Stadt Erfurt und des Erfurter Landkreises. S. 185ff.
3. Evang. Augustinerkloster (Hrsg.) (2003). Evangelisches Augustinerkloster zu Erfurt.
Text, Ton und Bild: Ben Schröder. #Glocken

show more

Share/Embed